Wie ich Ess-Störungen verstehe

Welche Verfahren in der Psychotherapie von Ess-Störungen angewandt werden, und wie ambulant oder stationär arbeitende Psychotherapeuten Ess-Störungen verstehen, hängt zusammen mit ihrer Aus- und Fortbildung („Schule“). Mit meinem psychodynamisch-systemisch-konstruktivistischen Hintergrund verstehe ich Ess-Störungen so:

Mädchen, Frauen, Männer entwickeln eine Ess-Störung, wenn sie in ihrem Leben anecken, wenn wichtige Dinge in ihrem Leben nicht funktionieren, wenn die Beziehungen zu Eltern, Familienmitgliedern, Mitschülern, Freunden, Lebenspartnern, Lehrern, Berufskollegen nicht rund laufen, wenn sie mit sich selbst nicht im Reinen sind und sie deshalb unter Hochdruck stehen.

Warum gerade das Hungern, das maßlose Vollfuttern, das Erbrechen für die Betroffenen ein Ausweg ist, ist für Angehörige und Freunde - sofern sie von der Störung überhaupt etwas mitbekommen - oft nicht nachvollziehbar. Warum verhalten sich Ess-Gestörte in einer Krise nicht einfach anders? Warum entwickeln sie überhaupt eine Ess-Störung?

Manche hat eine Freundin auf die Idee gebracht, manchen hat es ein Familienmitglied vorgelebt, manche wurden selbst fündig. Unglücklich, unzufrieden, unruhig und auf der Suche: in diesem Zustand beginnen Magersüchtige zu hungern; fangen Bulimikerinnen an, maßlos zu essen und sich anschließend zu übergeben; finden Ess-Süchtige Trost in der ersten Ess-Attacke. Im Versuch sich Erleichterung zu verschaffen, erleben die Betroffenen die beginnende Ess-Störung erst einmal als Lösung.

„Wenn ich die Welt um mich herum schon nicht beeinflussen und ändern kann, kann ich wenigstens meinen Körper, meine Figur ändern und kontrollieren. Das hilft.“ „Wenn ich so unglücklich und unzufrieden mit mir und der Welt bin, ess’ ich einfach etwas. Essen legt sich so sanft auf mein Gemüt. Und dann geh ich halt aufs Klo. Denn dick werden will ich auf keinen Fall!“ „Essen beruhigt, Essen tröstet. Nur noch dieses Stück Kuchen. Einmal ist keinmal! Und nach mir die Sintflut!“

Ess-Störungen sind Versuche, die Schwierigkeiten mit sich und der Welt zu lösen. Zu Beginn der Störung sind sie der beste Ausweg, der den Betroffenen zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung steht. Schritt für Schritt, durch mehrfach wiederholte Erfahrungen lernen Ess-Gestörte, sich durch Hungern oder durch maßloses Essen ein bisschen wohler zu fühlen. Und wenn sie sich ein bisschen wohler fühlen, ist es vielleicht nicht mehr so wichtig, wirkliche Lösungen für die eigentlichen Schwierigkeiten zu suchen. Vielleicht fällt einigen noch nicht einmal auf, dass sie sich mit einem Ersatz, mit einem Trostpflaster zufrieden geben. Und vielleicht liegen wirkliche Lösungen ja auch gar nicht in ihrer Reichweite.

Außerdem: eine Weile lang klappt ja alles besser „Die Welt um mich herum ist, wie sie ist, aber ich weiß, wie ich ganz alleine dafür sorgen kann, dass ich nicht mehr so unglücklich und unzufrieden bin.“ Bis der Zeitpunkt kommt, an dem die Ess-Störung Angehörigen auffällt, und diese aktiv werden. Oder bis Ess-Gestörte selbst merken, dass ihre Welt enger und begrenzter wird, während die Störung wächst, chronisch wird, sich selbständig macht und immer mehr Platz einnimmt. Bis sie merken, dass sie in der Falle sitzen: was einst hilfreich war, wendet sich nun gegen sie.

Es ist ihnen nicht länger möglich, sich unbefangen mit der Ess-Störung zu entlasten. Der Teufelskreis beginnt, die Zeit der bitteren Haderns mit sich selbst, eventuell auch die Zeit des Drucks von außen.

Und das Dilemma ist, die Betroffenen sehen noch gar keine Möglichkeit, im Leben ohne die Ess-Störung klarzukommen und zu funktionieren.